• Geschichten mit Seele

    Manche Geschichten sind wie Sonnenstrahlen von innen.

    Manche Geschichten sind wie Sonnenstrahlen von innen.

    Es gibt Texte, die packen ihre Leserinnen und Leser vom ersten Wort an und lassen sie bis zu den Buchstaben „E-N-D-E“ nicht wieder los. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen und manche Geschichten vereinen gleich mehrere davon:

    • Die Geschichte ist spannend.
    • Die Autorin/der Autor schreibt spannend.
    • Die Leserinnen und Leser erkennen sich in der Geschichte wieder.
    • Die Leserinnen und Leser erfahren auf jeder Seite etwas Neues.
    • Die Geschichte ist sprachlich besonders.
    • Die Geschichte rührt etwas in den Lesenden an.*

    Was jemand an einer Geschichte spannend findet, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Und was der eine als gut geschrieben empfindet, bezeichnet die andere als Schund. Das ist auch gut so. Denn sonst wären viele Geschichten nie erzählt worden.

    Geschichten wie der beste Freund

    Das Gleiche gilt auch für Geschichten, die anrühren, eine Saite zum Klingen bringen, die noch nach dem Zuklappen des Buches nachschwingt. Geschichten, die froh machen, weil man sie lesen durfte, und gleichzeitig traurig, weil sie viel zu schnell vorbei waren. Geschichten, die wie der beste Freund sind, der leider nur kurz zu Besuch kommen konnte.

    Ab einem bestimmten Alter sind solche Geschichten leider genau so selten wie die Besuche des besten Freundes. Es gibt zwar viele Geschichten, die spannend und gut geschrieben sind und sich hervorragend lesen lassen, doch Geschichten, die nach dem Lesen eine unbestimmte Sehnsucht im Bauch und den Kopf voll mit Gedanken und Ideen zurücklassen, gibt es nur wenige.

    Herzblut oder kein Herzblut – das ist hier die Frage

    Doch worin unterscheiden sich die besseren von den guten Geschichten? Man könnte meinen, sie seien mit mehr Herzblut, mehr Seele geschrieben, doch damit täte man den Autorinnen und Autoren der guten Geschichten Unrecht, die sicher nicht seelenlos vor dem leeren Bildschirm oder dem weißen Papier sitzen, sondern in ihre Geschichten genauso viel Liebe stecken.

    Und wie ich oben schrieb: Unterschiedliche Menschen werden von unterschiedlichen Geschichten unterschiedlich stark berührt. Ein und dieselbe Geschichte kann dem einen der beste Freund sein, für die andere ist sie „nur“ ein guter Kumpel. Und ein Dritter kann sie nicht ausstehen.

    Ein paar Zutaten für Geschichten mit Seele

    Deshalb wird es auch nie ein Patentrezept dafür geben, wie man mit Geschichten andere Menschen anrührt. Es gibt allerdings ein paar Zutaten, die nicht fehlen dürfen. Dazu gehören z. B. starke Figuren.

    Figuren, deren wesentliche Charakterzüge stärker ausgeprägt sind als die der meisten realen Menschen. Figuren, die mehr erleben und vor allem erleiden müssen als Otto Normalleser und die daraufhin über sich hinauswachsen. Figuren, mit denen die Leserinnen und Leser mitfiebern, die sie lieben können, obwohl sie es mit ihnen wegen ihrer ausgeprägten Wesensmerkmale nicht lange aushalten würden, begegneten sie ihnen im richtigen Leben. Figuren, die größer, gewaltiger („larger than life“) sind als ihre Gegenstücke in der Wirklichkeit und die trotzdem so lebensecht wirken, als könnten sie jederzeit aus der Geschichte schlüpfen und mit ihren Lesern ein Bier trinken gehen.

    Hat die Geschichte etwas Neues, etwas Besonderes – umso besser. Auch das trägt dazu bei, sie zu einer dieser unvergesslichen Geschichten zu machen. Dennoch sind es stets die gleichen Themen, die Menschen besonders anrühren. Dazu gehören Liebe, Hass, Verlust, Verrat, Rache und Tod. Behandelt eine Geschichte eines oder mehrere dieser (und weiterer) Themen, ist es nicht so wichtig, in welcher Umgebung sie spielt und ob an ihr etwas neu ist. Sie kann trotzdem anrühren.

    Empathisch sein, mit den Figuren mitfühlen

    Ich bin überzeugt davon, dass auch Autorinnen und Autoren über diese Themen/Gefühle anrührend schreiben können, obwohl sie sie noch nicht nicht am eigenen Leib erfahren haben. Was meiner Meinung nach jedoch wichtig ist: Sie müssen sich in ihre Figuren hineinversetzen, um glaubhafte und berührende Texte zu verfassen.

    Eins muss allen Schreibenden trotz allem klar sein: So, wie es (hoffentlich) Menschen gibt, die eine Geschichte nach dem Lesen als ihren besten Freund ansehen, wird es auch Menschen geben, die sie genau aus diesem Grund nicht mögen. Die Hauptsache ist jedoch, dass man selbst hinter ihr steht.

    * Natürlich gibt es noch viel mehr Gründe – das hier ist nur eine Auswahl.

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2 Responsesso far.

  1. Charlie sagt:

    Mein bester Freund, der zu Besuch kommt und nie lange bleiben kann, ist England Made Me. Seit 26 Jahren. Ich kann ihn nicht erwaehnen, ohne mich nach ihm zu sehnen (jetzt auch), ich kann an keinem Regal, in dem ich ihn entdecke, vorbeigehen, ohne ein paar Seiten zu lesen, und bei unserem letzten Umzug haben wir festgestellt, dass wir fuenf Exemplare davon besitzen, weil ich es manchmal nicht schnell genug finden kann und dann sofort ein neues bestellen muss.
    Als ich es das erste Mal las, war ich 24. Da fing ich abends um neun an, um halb sechs war ich fertig und dann habe ich zwei geschlagene Stunden geweint. Noch immer halb erstickt bin ich von unserem Hochbett gestiegen, habe meinen Chef angerufen und, ohne zu ueberlegen, erklaert, ich koenne heute nicht kommen, ich haette einen Todesfall. Er hat mir „zu meinem Verlust“ konduliert, und ich habe mich kein bisschen geschaemt, denn fuer mich war es so: Ich hatte England Made Me gefunden und gleich wieder verloren, ich wuerde es nie wieder zum ersten Mal lesen koennen, und dafuer brauchte ich einen Tag zum Weinen. Wenn es heute jemand zum ersten Mal liest, tut mir vor Eifersucht die Brust weh.
    Darueber, warum das so ist, habe ich oft nachgedacht, aber auch immer wieder damit aufgehoert. Es hat vieles, das andere grandiose Romane auch haben, hinreissende Figuren, einen Hauptdarsteller, um den man sich das Herz auswringen moechte, und der aus einer genial angeschraegten Perspektive betrachtet wird, eine Geschichte, die sich klein und schaebig gibt und gross und tragisch und allumfassend ist, eine betoerend komplette Ausnutzung der Form Roman und einen Ton, der fuer immer im Ohr bleibt. Aber er hat darueber hinaus noch etwas anderes, Charisma, Wuerde und ein Geheimnis, das macht seinen Zauber aus, und dem komme ich nicht nachdenkend naeher, sondern mich verbeugend.
    England Made Me ist das Buch, bei dem es mir genug ist, es zu lieben.

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