• Ist es wichtig, ob die Protagonistin blond ist? Figurenbeschreibung in Geschichten

    Babypuppe Gesicht

    Diese Figur hat gar keine Haare – macht aber nichts.

    Menschen, die Geschichten erzählen, haben meistens eine klare Vorstellung von den Hauptpersonen ihrer Geschichten. Viele planen die wesentlichen Merkmale ihrer Figuren genau, legen vielleicht sogar ein ausführliches Charakterprofil an und stellen ihren Figuren Fragen nach ihren größten Ängsten, dem wichtigsten Vorkommnis in ihrem bisherigen Leben und nach dem, was sie lieben oder hassen. Das alles kostet Zeit und Hirnschmalz, ist aber sinnvoll, will man seine Figuren und ihre Beweggründe richtig kennenlernen. Schließlich sollen sie später folgerichtig und nachvollziehbar handeln – und nicht etwa Dinge tun, die ihrem Wesen nicht entsprechen.

    Wer eine grandiose Figur erschaffen hat, möchte diese natürlich auch den Lesern nahe bringen. Am liebsten mit all ihren Facetten. Deshalb geraten manche Schreibende in Versuchung, ihre Figuren detailliert zu beschreiben. Manchmal zu detailliert. Denn was Autoren bei all ihrer Begeisterung über die eigenen Figuren gerne vergessen: Die meisten Leser wollen keine ausufernde Beschreibung. Viele werfen lieber ihr eigenes Kopfkino an und machen sich selbst ein Bild von den Figuren. Der Autor soll sie dabei nur anleiten, sprich: den Lesern die wesentlichen Merkmale der jeweiligen Figur aufzeigen.

    Für Autoren heißt es deshalb, bei der Beschreibung von Figuren das richtige Maß zu finden. Also die Informationen zu übermitteln, die Leser tatsächlich brauchen, und die wegzulassen, die nicht unbedingt nötig sind. Weniger ist dabei oft mehr – selbst auf die Gefahr hin, dass der Leser die Figur anders wahrnimmt, als der Autor sie angelegt hat. Doch wäre das wirklich so schlimm? Im Leben ist es doch auch so, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Charakterzüge unterschiedlich beurteilen.

    Was aber kann man bei Figurenbeschreibungen nun weglassen, was nicht?

    Wichtiges nennen, Unwichtiges weglassen

    Ist das Äußere einer Person für die Geschichte nicht wichtig, ist meistens auch dessen genaue Beschreibung unnötig. In diesen Fällen sollten Autoren auf das Vorstellungsvermögen ihrer Leser vertrauen, die sich anhand von Charaktereigenschaften das Aussehen der Figur selbst „zusammenzimmern“ (und oft ganz enttäuscht von Verfilmungen sind, weil sie sich die Hauptdarsteller ja ganz anders vorgestellt haben).

    Spielen Aussehen und Kleidung einer Person jedoch eine Rolle für die Geschichte, sieht das Ganze anders aus. Äußerlichkeiten sollten Autoren beispielsweise immer dann beschreiben, wenn sie für das Verständnis oder den Fortgang der Geschichte wichtig sind oder aber eine besondere Atmosphäre schaffen. So kann die Beschreibung der Kleidung im historischen Roman verdeutlichen, zu welcher Zeit und in welcher Gesellschaftsschicht die Geschichte spielt. In einer Horror-Story wirkt eine Person durch die Beschreibung ihres Aussehens unter Umständen noch unheimlicher. Und manchmal spielen Kleidung und Aussehen auch für den Fortgang der Geschichte eine Rolle, wie etwa der gläserne Schuh bei Aschenputtel.

    Charaktereigenschaften nicht nur nennen, sondern zeigen

    Schreibt ein Autor in seinem Text: „Karl war ein großzügiger Mann“, mag das so zwar richtig sein, doch glaubhaft ist es für den Leser nicht – der Autor behauptet es ja nur. Schreibt er hingegen etwas wie „Karl drückte dem einäugigen Bettler vor dem XY-Supermarkt fünf Euro in die Hand – so, wie er es bei jedem seiner Einkäufe in den letzten zwei Jahren getan hatte“, steht im Text zwar nicht ausdrücklich, dass Karl großzügig ist, der Leser reimt es sich aus dieser Information aber selbst zusammen. Sogar, wenn der Leser den Schluss zieht, dass Karl nicht großzügig, sondern mildtätig ist, hat der Autor sein Ziel erreicht.

    Mehrere solcher Puzzleteile verdichten sich schließlich zum vollständigen Bild einer Figur. Es gibt sogar Autoren, die eine Figur bereits mit einem Satz skizzieren können, sodass der Leser sie vor seinem inneren Auge sieht:

    Für die Öffentlichkeit sind die Ehefrauen berühmter Schriftsteller praktisch unsichtbar, und niemand wusste das besser als Lisey Landon.

    Stephen King, erster Satz des Romans „Love“

    Selbstverständlich gehört Vertrauen in die Leser dazu, einen Satz wie diesen für sich allein stehen zu lassen. Einen Satz, mit dem die Leser ansatzlos in Lisey Landons Gedankenwelt gestoßen werden, der ihnen zeigt, wie sie sich selbst sieht. Ein Autor, der so etwas schreibt, vertraut darauf, dass die Leser aus seinen Worten schon die richtigen Schlüsse ziehen werden. Dieses Vertrauen wird häufig belohnt. Denn die Leser behalten eine Figur eher im Gedächtnis, erlaubt ihnen der Autor mitzudenken, anstatt ihnen alles vorzukauen.

    Man stelle sich vor, Stephen King hätte in einem Nachsatz noch erwähnt, dass Lisey Landon eine graue Maus ist. Das hätte den Zauber des zuvor Gesagten zerstört – und vermutlich auch das bereits entstandene Bild im Kopf des Lesers.

    Den Figuren ihre kleinen Geheimnisse lassen

    Sollen die Figuren einer Geschichte dem Leser im Gedächtnis bleiben, ist es – wie im ersten Absatz bereits erwähnt – sinnvoll, dass der Autor bei ihrer Konzeption in die Tiefe geht. Er sollte neugierig sein, alles über sie in Erfahrung bringen. Und damit ist tatsächlich alles gemeint, auch die Dinge, die für die eigentliche Geschichte unwichtig sind. Zum Beispiel, welche inneren Verletzungen die Figuren aufweisen, welche Leichen sie im Keller haben oder welche fiesen, kleinen Charakterzüge sie besitzen. Doch nicht alles, was ein Autor über seine Figuren weiß, muss auch der Leser erfahren.

    So muss ein Autor zwar beispielsweise wissen, dass Greta als Kind immer gehänselt wurde, weil sie sich nicht getraut hat, vom Dreimeterbrett zu springen. Er muss auch wissen, dass sie aus Angst vor weiteren Demütigungen heute stets die Forsche herauskehrt, wenn sie mit Freunden zusammen ist. Und das, obwohl sie tief in ihrem Inneren gar nicht besonders mutig ist. Letzteres muss zwar auch der Leser erfahren, sollte es wichtig für die Geschichte sein, den tieferen Grund, warum Greta sich keine Blöße geben mag, muss er jedoch nicht unbedingt kennen. Der Autor aber, der Gretas Kindheitsgeschichte im Hinterkopf hat, kann seine Greta mithilfe dieser Hintergrundinformation noch überzeugender handeln lassen.

    Manche Eigenschaften nur andeuten

    Einige Autoren lieben es, ihre Leser direkt mit der Nase auf die Charaktereigenschaften ihrer Figuren zu stoßen à la: „Schau mal, Leser: Figur XY ist der Größte, Tollste, Stärkste“. Das kann man zwar durchaus mal machen, doch besser nicht allzu oft. Die meisten Leser fühlen sich sonst nämlich für dumm verkauft und pfeffern die Geschichte nach kurzer Zeit in die Ecke. Manche Charakterzüge sollten Autoren daher lieber nur andeuten. Auf diese Weise appellieren sie indirekt an die Leser mitzudenken und erhöhen so deren Lesespaß.

    Nehmen wir wieder das Beispiel von Greta, die ihren Freundinnen vermittelt, besonders forsch zu sein, es aber eigentlich nicht ist. Letzteres könnte ein Autor z. B. andeuten, indem er Greta bei einer Sache, die Mut erfordert, zögern lässt.

    Neben den hier genannten gibt es sicher noch viele weitere Möglichkeiten, Eigenschaften und Äußerlichkeiten von Figuren so zu schildern, dass die Figuren zum Leben erwachen, den Leser auf ihre Reise mitnehmen und für die Dauer des Lesens vielleicht sogar zu einem guten Freund werden. Lasst ihr mich auch eure Tipps wissen?

4 Responsesso far.

  1. Anette sagt:

    Liebe Simone, ein wunderbarer Artikel 🙂

    Mich hat beeindruckt, wie Ken Follett in „Die Säulen der Erde“ seine Hauptfigur Tom einführt (S. 14 ff). Unter anderem macht er einige seiner Charaktereigenschaften deutlich, indem er das Verhältnis von Vater und Sohn schildert: „Alfred wurde nun langsam zum Mann, und Tom hätte es gern gesehen, wenn sein Sohn mit etwas mehr Fleiß und Bedacht bei der Sache gewesen wäre.“

    Liebe Grüße
    Anette

    • Dankeschön, Anette! Und danke für das tolle Beispiel, wie man Figuren auch noch gut charakterisieren kann: durch die Sicht anderer Figuren auf sie.

      • Charlie Lyne sagt:

        Was fuer ein grandioser Artikel!
        Ich habe mich augenblicklich mehrere Male ganz gemein ertappt gefuehlt (moechte auch gern dem Leser ununterbrochen ins Ohr droehnen, wie einzigartig und unwiderstehlich meine Figur ist und wie hinreissend kitzlig zwischen den zwei groessten Zehen …). Am besten gefaellt mir Dein Hinweis auf das Geheimnis einer Figur. Leider erweisen viel zu viele von uns da viel zu oft als Schwatzhanseln und werden damit zu Verraetern an unseren Figuren. Wolfram Fleischhauer hat mal gesagt, einer Figur ihr Geheimnis lassen, heisst, ihr ihre Wuerde lassen.

        Ich lese diese wuerdevollen, noch nicht ganz und gar ausgekratzten Figuren sehr gern.

        Herzlich,
        Charlie,
        kommt jetzt oefter

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