Das sind jetzt natürlich nur Gedankenspiele. Es gibt sicher Menschen, die in ihrem Leben mehr als 1260 Bücher lesen. Dennoch: Auf 80.000 Bücher wird es wohl keiner bringen. Denn dann müsste man in einer gut 70-jährigen Lesekarriere an jedem Tag mehr als drei Bücher lesen (wer es genau wissen will: 3,137254901960784 Bücher pro Tag, Schaltjahre nicht eingerechnet).
Schaut man sich nun die Fülle der Neuerscheinungen an, könnte man glatt auf die Idee kommen, dass jede, aber wirklich jede Geschichte bereits erzählt wurde. Denn schließlich erscheinen nicht nur in Deutschland Bücher, sondern auch in anderen Ländern. Stellt sich die Frage: Lohnt es sich dann überhaupt noch, Geschichten oder Bücher zu schreiben?
Ich, als Buchautorin, bin naturgemäß befangen und müsste eigentlich mit einem lauten Ja antworten. Eigentlich. Doch fällt mein Ja nicht ganz so laut aus – und das hat einen Grund. Da ich mich auch zur Gruppe der Vielleser zähle (ja, ich lese mehr als 18 Bücher pro Jahr; nein, drei pro Tag schaffe ich nicht), habe ich schon eine Reihe von Büchern gelesen. Aus den meisten Genres im Bereich der Belletristik übrigens. Ich bin da nicht so festgelegt. Wenn mir jemand eine gute Geschichte erzählt, ist es mir egal, ob sie auf Beteigeuze, in der south dakotanischen Prärie oder in einer Besenkammer spielt. Auch das Jahrhundert ist mir wurscht, genauso, ob es sich bei den Hauptfiguren um Abenteurer, Amöben oder Aliens handelt. Doch der Knackpunkt ist: Nicht jede Geschichte, die zwischen zwei Buchdeckel gepresst oder in elektronischer Form veröffentlicht wird, ist gut.
Natürlich ist die Wertung „gut“ subjektiv. Was ich gut finde, finden andere total bescheuert. Doch als Vielleser hat man eben schon vieles gelesen und gähnt bei manchen Geschichten nur noch, weil man sie schon kennt. Mann trifft Frau, Mann und Frau verlieben sich, Mann und Frau entzweien sich wegen eines Ereignisses, einer Intrige oder eines blöden Zufalls, finden aber am Ende wieder zueinander – allein nach diesem Muster wurden bestimmt Abertausende von Geschichten geschrieben. Und doch gibt es darunter immer wieder Geschichten, die von Anfang an fesseln. Warum ist das so?
Ich habe in der letzten Zeit festgestellt, dass es nicht in erster Linie die Geschichte ist, die in mir eine Saite zum Klingen bringt. Wichtiger sind mir die Figuren. Starke Figuren, deren Beweggründe ich nachvollziehen kann (verstehen muss ich sie nicht), Figuren, die in sich stimmig sind, auch wenn sie überraschend handeln, Figuren, mit denen ich mitfiebern, mitleiden und mich mitfreuen kann – sie bringen mich dazu, ihre Geschichte bis zum Happy End oder bitteren Schluss zu verfolgen. Für mich ist es ein bisschen so, als ob ich ihr Leben mitlebe. Diese Figuren werden während des Lesens zu guten Freunden, die ich nur ungern verlasse. Klappe ich das gelesene Buch zu, stellt sich im besten Fall die Sehnsucht ein, mehr von diesen Figuren zu erfahren.
Starke Figuren tragen übrigens auch eine schwächere Handlung. Womit ich nicht sagen möchte, dass ein Autor auf seine Handlung weniger Wert legen sollte als auf seine Charaktere. Das nicht. Fängt der Polizist einen Mörder am Ende eines Krimis nur durch eine Verkettung von Zufällen, pfeffere auch ich das Buch in die Ecke, selbst wenn Polizist und Mörder wunderbar ausgefeilte Charaktere sind. Doch kleinere Ungereimtheiten verzeihe ich eher, wenn die Figuren gut gezeichnet sind.
Deshalb nun meine ganz persönliche Antwort auf die Frage, ob alle Geschichten schon erzählt sind: Über alle wesentlichen Themen, die die Antriebsfeder für menschliches Handeln sind – Liebe, Hass, Rache, Abenteuer usw. -, gibt es bereits eine Vielzahl von Geschichten. Deshalb ist es die Art und Weise, wie eine Geschichte erzählt wird, die sie von anderen abhebt. Und dabei kommt den Figuren eine, wie ich finde, zentrale Rolle zu.
Es lohnt sich deshalb, sich für die Charakterzeichnung von Haupt- und Nebenfiguren Zeit zu nehmen. Denn vor allem Charaktere, mit denen man mitfühlen kann, sorgen, neben überraschenden Wendungen, dafür, dass man auch die 100. Liebesgeschichte mit Genuss liest, obwohl man längst weiß, dass die Hauptfiguren sich zum Schluss kriegen.