S.H.: Guten Morgen. Ehe wir beginnen, würde ich gerne wissen, wie Sie angesprochen werden möchten: mit Frau oder mit Herr Eiche.
Eiche: Weder noch – ich bin beides. Sagen Sie einfach Eiche zu mir.
S.H.: In Ordnung. Eiche, darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?
Eiche (beleidigt): Sie sind ein wenig indiskret, oder? Aber gut. Ich muss über 100 Jahre alt sein. Genau weiß ich es leider auch nicht. Als junger Baum hat man anderes zu bedenken als das Alter. Und jetzt müsste man meine Jahresringe zählen, um auf mein exaktes Alter zu kommen. Doch ich habe in absehbarer Zeit nicht vor, sie jemandem zu präsentieren. Aus gutem Grund, wie Sie sich denken können (lacht).
S.H.: Ja, das kann ich nachvollziehen. Sie haben in letzter Zeit schließlich miterleben dürfen/müssen, wie so einige Bäume in Ihrer Umgebung der Motorsäge zum Opfer fielen.
Eiche (hebt ein paar Äste in Abwehrhaltung): Oh, erinnern Sie mich nicht daran! Allein dieses schreckliche Geräusch! Und meine Kollegen waren alle noch so jung … Wechseln wir besser schnell das Thema.
S.H.: Gut. Sie stehen nun also schon seit mehr als 100 Jahre an immer derselben Stelle. Wird das nicht irgendwann langweilig?
Eiche: Och, es passiert doch immer wieder etwas Neues. Die Jahreszeiten wechseln, der Fluss schwillt an und ab, die Zugvögel kommen und gehen …
S.H.: Ich sehe schon: Ihr Leben ist nicht so langweilig, wie ich dachte.
Eiche: Langweilig? Wie kommen Sie denn darauf? Ich bekomme doch ständig Besuch. Wissen Sie eigentlich, wie viele Vögel und Insekten in meinen Zweigen und Ästen leben?
S.H.: Nein. Wissen Sie’s denn?
Eiche: Ähem (lacht). Jetzt haben Sie mich auf dem falschen Fuß erwischt.
S.H.: Aber Sie haben doch überhaupt keine Füße!
Eiche: Woher wollen Sie das denn nun wieder wissen? Können Sie etwa unter die Erde schauen? Nein, schon gut. Ich wollte nur mal eine menschliche Redensart benutzen. Natürlich habe ich einen Stamm und Wurzeln und keine hässlichen Füße.
S.H.: Und was für einen prächtigen Stamm …
Eiche: Nicht wahr? Manche der jungen Bäume um mich herum finden mich zwar ein bisschen stämmig. Aber: Leben braucht Gewicht – hat das nicht bereits eine Ihrer Gesundheitsministerinnen gesagt?
S.H.: Sie kennen sich aber gut aus. Woher wissen Sie das schon wieder?
Eiche: Ich bekomme so einiges mit. Ich höre Radio, und manchmal luge ich mit einem meiner Zweige in ein Fenster, wenn mich im Fernsehen etwas interessiert. Das ist so viel besser als das Rascheln im Blätterwald.
S.H.: Was meinen Sie mit Blätterwald?
Eiche: Na, die Gerüchteküche der Bäume. Wenn hier eine Nachricht ankommt, kann ich sicher sein, dass ihr Wahrheitsgehalt nur noch minimal ist.
S.H.: Woran liegt das?
Eiche: Ich bin der letzte einer Reihe von Bäumen. Und jeder Baum, der die Nachricht weitergibt, verändert sie ein wenig.
S.H.: Ach so. Ungefähr wie bei der „Stillen Post“.
Eiche: Ich finde das Postauto ganz schön laut.
S.H.: Ja, ähem. Was mögen Sie denn besonders am Eichenleben?
Eiche: Wie gesagt: Ich schätze Besuch. Auch heute erwarte ich wieder eine Vielzahl von Gästen. Manchmal ruhen sich sogar Menschen in meinem Schatten aus. Hin und wieder kommt auch ein Hund oder eine Katze vorbei.
S.H.: Aber Hunde haben doch ein ganz besonderes Verhältnis zu Bäumen. Stört es Sie denn nicht, angepinkelt zu werden?
Eiche (lacht): Ach, wissen Sie: Einen jungen Baum mag das vielleicht stören, er kann davon sogar zugrunde gehen. Aber ich merke das kaum noch. Außerdem sind es nicht viele Hunde, die mich besuchen.
S.H.: Was machen Sie eigentlich im Winter?
Eiche: Da schlafe ich. Schließlich bin ich den gesamten Frühling, den Sommer und einen Großteil des Herbstes über wach.
S.H.: Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen …
Eiche: Das habe ich auch gar nicht nötig. Ich wollte Ihnen nur eine Erklärung liefern. Aber wenn Sie das nicht verstehen.
S.H.: Doch, doch. Schon gut. Regen Sie sich nicht auf!
Eiche: Ich mich aufregen, pah! Jemand wie Sie kann mich doch gar nicht aufregen. Trotzdem: Wir sollten dieses Gespräch jetzt beenden. Es ist schon spät. Ich höre, wie sich in den Häusern rundherum das Leben regt. Und ich möchte nicht, dass jemand mitbekommt, dass wir Bäume nicht so still sind, wie alle denken.
S.H.: Warum nicht?
Eiche: Sie wissen doch, wie schnell man verfolgt wird, wenn vermutet wird, man könne Geheimnisse weitergeben.
S.H.: Geheimnisse?
Eiche: Schon gut. Sie können schließlich nicht wissen, was wir Bäume alles mitbekommen. Wir sind weit verzweigt, und unsere Wurzeln reichen tief.
S.H.: Ui, ui, ui. Da tun sich ja Abgründe auf. Sollten wir nun noch stärker aufpassen, was wir öffentlich äußern?
Eiche: Abgründe? Wo? Ich hoffe, ich werde nicht abrutschen (wendet einige Zweige hin und her). Jetzt wird’s mir hier aber zu gefährlich, hören wir besser auf. Einen schönen Tag noch.
S.H.: Liebe Eiche, herzlichen Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch!
Eiche scheint mir aber ziemlich zickig…
Wenn du noch mehr über das Alltags- und sonstige Leben eines Baumes nachdenken möchtest, empfehle ich dir als Lektüre „Der Tannenbaum“ von Susanna Tamaro. (Besonders schön in der (Vor-)Weihnachtszeit.)
Liebe Katja,
Eiche war ein wenig knorrig, das stimmt. Der Tannenbaum? Das Buch kenn ich noch nicht. Muss ich unbedingt mal nachschauen – danke für den Tipp!
Hallo!
Ich schreibe aus der Nachbarschaft.Denn ich bin der alte Weinstock von nebenan .Muss mich hier zu Wort melden , denn die Eiche ist zu mir ein Jüngling .Ich kann mich genau erinnern , warum die Eiche gepflanzt wurde. Es war kein schöner Anlass ,den es ist der Lebensbaum von( Hänschen Meier )
Er wurde wenn ich mich richtig erinnere nur 16 Jahre alt und ist 1944 gefallen. Wir werden dann in 30 Jahren deinen 100 Geburtstag feiern .
Hoffe ich bin dann noch dabei .
Bis dahin grüße ich jeden Morgen die alte Eiche mit einem Wink meiner Zweige über das Dach. Wenn ich eine vertrauliche Nachricht geben möchte , schicke ich die Meisen mit einem Blattbericht los. Im Augenblick habe ich viel zu tragen ,denn meine Trauben hängen reif und lecker an mir .
Bald kommen alle vorbei und ich gebe gern meine Arbeit des Jahres wieder ab.
Einen lieben Gruß in die Nachbarschaft.
Der alte Weinstock anno 1898